Erwachsen sein fetzt
Wie wir die Lust am Erwachsenwerden zurückfinden und damit die Welt verändern.
In der letzten Zeit habe ich eine Beobachtung gemacht, die zunächst ganz harmlos, fast niedlich, irgendwie träumerisch-romantisch klingt: Wir wollen nicht mehr erwachsen werden.
Es lassen sich zahlreiche Daten heranziehen, die diese Beobachtung stützen. Am offensichtlichsten ist, dass traditionelle Meilensteine des Erwachsenwerdens (Heirat, Kinder bekommen) später erfolgen als in früheren Generationen – oder sie entfallen ganz. In Kultur und Medien wäre das Phänomen der „Kidults“ zu nennen, also Erwachsenen, die kindliches Konsumverhalten zeigen. Für die Unterhaltungsindustrie stellt es ein absolutes Trendthema dar. Sie reagiert mit Retro-Produkten und Nostalgie-Sets, die in die Kindheit zurückversetzen sollen.
Ewig Kind bleiben, das ist die zarteste Versuchung unserer Tage. Doch wir übersehen dabei eines: Erwachsen sein fetzt!
Nur als Erwachsene können wir die Welt gestalten – und Liebe zu uns selbst finden. Lass es mich erklären …
Wenn ich mal groß bin, will ich ein Kind sein?
Ich möchte zunächst über ein Phänomen sprechen, das ich die Tyrannei der Belanglosigkeit nenne. Sie ist der kulturelle Nährboden, auf dem unser Unwille, Erwachsen zu werden, wuchert. Komische Ticks, ulkige Rituale, schräge Hobbys oder Nerdwissen über eine Serie: in der Peripherie unseres Lebens bringen Belanglosigkeiten Würze, Witz und Charme. Hier sind sie zuhause. Hier gehören sie hin.
Doch überall, wo größere Lebensentscheidungen zugunsten von sofortiger Bedürfnisbefriedigung, kurzfristigen Highs oder mittelfristigem Individualkomfort getroffen werden, rücken Belanglosigkeiten aus der Peripherie ins Zentrum und beherrschen uns. Das geschieht überall dort, wo nicht vom Ende her gedacht wird, also nicht prinzipienorientiert. Ein Beispiel: Wer seinen Ehepartner nach dem Prinzip „ich möchte mit 80 Jahren neben dieser Person im Schaukelstuhl sitzen“ auswählt, denkt vom Ende her, also langfristig. Wer hingegen noch in der anfänglichen Verliebtheitsphase aus einem Gefühl heraus vor den Altar tritt, folgt eher einem kindlichen „Ich will es jetzt sofort haben“-Impuls.
Ich komme mir ein bisschen wie ein Grundschullehrer vor, wenn ich diese Zeilen tippe – so vollkommen logisch ist es doch, dass man richtungsweisende Entscheidungen vom Ende her denken sollte. Wieso schreibe ich dann darüber? Weil ich überall um mich herum erwachsene Menschen sehe, die in den großen Dingen ihres Lebens entscheiden wie Kinder: kurzfristig, impulsiv, getrieben, reaktiv, unmündig.1
Es ist großartig, groß zu werden
Warum so viele Menschen kindliche Entscheidungen treffen? Ich glaube, der Grund ist: Uns fehlt eine positive Vision des Erwachsenseins. Der Reife haftet ein schlechtes Image an. Sie ist unsexy geworden. Die amerikanische Philosophin Susan Neyman beschreibt diesen gesellschaftlichen Sinneswandel so:
„Nach der verbreiteten Ansicht heißt erwachsen sein, auf die eigenen Hoffnungen und Träume zu verzichten, die Grenzen, die uns die Realität setzt, zu akzeptieren und sich mit einem Leben abzufinden, das weniger abenteuerlich, interessant und bedeutsam ist, als man zu Beginn annahm.“2
Das Gegenteil ist der Fall. Erwachsen sein ist eigentlich das Ideal. Und es lohnt sich, nach dieser Reife zu streben. Es ist gar großartig, groß zu werden. An der Schwelle vom Kind zum Erwachsenen wird zwar die heile Traumwelt des grenzenlosen Potenzials zum realen Acker des Lebens, doch nur hier kann etwas Reales wachsen.
Reife, das sagt schon das Wort, bringt Frucht. Kind sein ist süß, unbedarft, drollig und verspielt. Doch Kinder sind unproduktiv und treffen kurzsichtige Entscheidungen. Das wird jeder bestätigen können, der längere Zeit mit einem verbracht hat. Kinder können die Welt nicht verändern, zumindest nicht direkt. Fast alle großen Errungenschaften der Menschheit, seien sie wissenschaftlicher, architektonischer oder künstlerischer Art, wurden von Erwachsenen vollbracht.
Und hier haben wir den ersten Teil unserer positiven Vision: Erwachsen sein ist die Fähigkeit, die Welt zu verändern.
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