Langeweile klingt langweilig. Laaaaangweilig. Doch wo manche den Bodensatz der Existenz vermuten, liegt vielleicht ein Bodenschatz vergraben.
Erst vor wenigen Wochen habe ich diesen Blog gestartet, und jetzt ist es soweit! Es tut mir unendlich leid, aber …
Jetzt wird zum ersten Mal Goethe zitiert!
„Langeweile! du bist, Mutter der Musen, gegrüßt.“
War das wirklich notwendig? Ich befürchte, ja. Der gute Johann Wolfgang weiß nämlich, dass Langeweile eigentlich der Startpunkt von Kreativität und Innovation ist. Du kannst ja mal überlegen, wann dir im Alltag die abgefahrensten und manchmal besten Ideen kommen … genau: abends, wenn du im Bett liegst und eigentlich schlafen solltest. Weil das bei vielen die einzige Zeit des Tages ist, an der sie nichts anderes tun, als im Hier und Jetzt zu sein.
Konsum ist kein Stresskiller
Social Media, Podcasts und der Streaming-Dienst deiner Wahl: Du kannst es „Unterhaltung“ nennen – „Betäubung“ wäre aber der passendere Begriff. Jahrelang bin ich abends von Arbeit oder Studium heimgekommen und habe zuhause sofort Instagram-Reels oder eine Netflix-Serie konsumiert. Ich habe mir selbst eingeredet, dass ich das bräuchte, um mich von dem Arbeitsstress zu erholen. Was ein Blödsinn!
Medienkonsum bringt dich nicht runter. Es wäre auch neuro-unlogisch zu glauben, dass dein überreiztes Gehirn dadurch Stress reduziert, dass du es noch mehr Reizen aussetzt. Du erholst dich, indem du ruhig wirst, entschleunigst und wieder ins Hier und Jetzt findest. Entschleunigung kann ein Abendessen ohne Blick aufs Handy sein oder ein Spaziergang in der Natur. Der absolute Gamechanger ist jedoch die Stille.
Aber Stille kommt nicht einfach so. Du musst für sie Kämpfen. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts verdoppelt sich die Menge der existierenden Daten alle drei Jahre.1 In dieser rasant drehenden, unübersichtlichen Welt ist es ein heroischer Schritt der Mündigkeit, den Stopp-Knopf zu drücken.
Stille in den Alltag zu integrieren, hat explosive Auswirkungen. Das Qualitätsversprechen: Nicht nur schenkt sie dir das zurück, was bei all der Beschleunigung verloren geht: ein Gefühl für dich selbst. Sie entknechtet auch vom Funktionier-Druck. Doch ein passives Nirvana ist nicht der Zielpunkt. Durch die Stille entsteht Fokus, wächst immer wieder neue Schaffenskraft. Ja, Schaffenskraft: Stille ist nicht nur Selbstzweck, sondern zeigt Wirkung.
Und das ist kein Geheimnis. Nicht nur die High-Performer im Silicon Valley kennen heute die 80-zu-20-Regel, wonach 80% der Ergebnisse in 20% der Zeit erzielt werden könnten. Doch das bleibt schöne Theorie, wenn ich nicht weiß, wie ich in den Flow meiner 20% komme. Im richtigen Rhythmus aus Ruhe und Arbeit liegt vielleicht der Schlüssel. Wer viel leisten will, braucht viel Stille. Oder etwas poetischer: Nichts pflegt und bringt dich ins Tun wie gepflegtes Nichtstun.
Goethe wäre sicher stolz auf mich.
Langeweile ist der Gradmesser: Hältst du es mit dir selbst aus?
Der Theologe Dr. Johannes Hartl meint: „Langeweile ist das, was dein Geist empfindet, wenn er es nicht gewohnt ist, das Hier und Jetzt auszuhalten“, und weiter: „Langeweile ist die Unfähigkeit, es mit sich selber auszuhalten.“
Wenn du still wirst, wird es automatisch laut in dir und du stellst dich der Frage „Wie geht’s mir eigentlich?“. Ich erstaune immer wieder, wie schwer es mir fällt, diese einfache Frage nach einem vollen Tag zu beantworten. Zu viele Eindrücke schreien nach meiner Aufmerksamkeit. Manchmal vergesse ich dabei … mich selbst. „Aufmerksamkeitsökonomie“ oder „mentaler Kapitalismus“ wird dieser Kampf um unsere Aufmerksamkeit übrigens in der Fachsprache genannt. Der spanische Philosoph José Ortega y Gasset schreibt:
„Tell me to what you pay attention and I will tell you who you are.“
Logisch, dass du getrieben und oberflächlich wirst, wenn du digitalen Medien täglich Stunden deiner Zeit schenkst. Klar, dass du dich nicht mit dir selbst verbunden fühlst, wenn du dir selbst keine Aufmerksamkeit zukommen lässt.
Magie der Stille
Stille hat etwas Magisches. Aus der Statik der Leere entsteht paradoxerweise Bewegung, Motivation und Innovationskraft.
Überleg doch mal, wie viele Minuten du täglich im Hier und Jetzt verbringst.
Bei mir war das viel zu lange viel zu wenig. Ständig hing ich mit meinen Gedanken in der Vergangenheit, der Zukunft oder habe mich schlicht abgelenkt. Es hat mir keine Erholung gebracht. Stattdessen wurde ich unzufrieden.
Heute beginne ich keinen Arbeitstag, ohne mich morgens in der Stille gesammelt zu haben. Um die Texte für diesen Blog zu schreiben, nutze ich die Zeit, die ich früher in Netflix gesteckt hätte. Nach dem Schreiben eines Texts fühle ich mich deutlich erholter als nach fünf Folgen Serie. Empfehlen kann ich auch richtige Auszeiten. Erst vor Kurzem war ich einige Tage schweigend im Kloster: eine abenteuerliche Reise zu mir selbst und ein großer Anschub für meinen Alltag.
Und Langeweile? Langeweile ist eigentlich der Zustand, wenn dein Geist die Stille nicht aushält und nach etwas greifen möchte. Du kannst auf diese Sehnsucht mit Aktivität, Ablenkung und Geschäftigkeit reagieren – oder sie ernst nehmen und tiefer graben.
Ich denke, Schaffenskraft kommt tatsächlich aus der Fähigkeit, Nein zur Ablenkung und Ja zu Fokus, Stille und Langeweile zu sagen.
McKinsey Global Institute - Big data: The next frontier for innovation, competition, and productivity.
Interessant, dass du "Faszination" mit "Stille" verbindest.
Ich bin nicht so der Faszinationalist. Mir liegt "Interesse" und "Ruhe" näher.
Langeweile kann ganz schön langweilig sein. Lang. Und dann werde ich Unzufrieden. Doch diese lange Weile ist auch ein Raum in dem ich aktiv äußere Passivität kultivieren darf, um meinen Rezeptoren, in Körper, Geist und Herz Möglichkeit zu geben ihr Gespräch mit den Dimensionen zu führen. So rasch wird Langeweile dann zu Kurzweil. 😊 Danke dafür, dass ich hier bei dir ein wenig verweilen durfte. 🩷🪽